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Johnson, Uwe

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* 20. 7. 1934 in Cammin in Pommern, Kamieñ Pomorski
† 23. 2. 1984 in Sheerness-on-Sea on Isle of Sheppey, Kent


Aus einer in Mecklenburg und Pommern ansässigen Bauernfamilie stammend, wuchs Johnson in Anklam auf, besuchte vor Kriegsende eine „Dt. Heimschule“ in Posen, floh 1945 nach Recknitz in Mecklenburg, besuchte ab 1946 in Güstrow die Oberschule und studierte 1952–56 in Rostock, dann in Leipzig Germanistik. Trotz bestandener Diplomprüfung (bei Hans Mayer) „nicht geeignet für Beschäftigung in staatlichen Institutionen“, bewarb er sich vergeblich mit seinem Roman Ingrid Babendererde bei DDR-Verlagen und lebte von literarischen Gelegenheitsarbeiten. Die Annahme seines Romans Mutmaßungen über Jakob in der B. D. veranlasste ihn 1959 zur Übersiedlung nach West-Berlin. Er wurde Mitglied der „Gruppe 47“ (Freundschaft mit Grass), hielt sich 1961 erstmals in den USA auf und war 1962 Stipendiat der Villa Massimo in Rom. 1966 ließ er sich vorübergehend in New York nieder (Lektor eines Schulbuchverlags, Beginn der Arbeit am Roman Jahrestage); 1968 kehrte er nach Berlin-Friedenau zurück, von 1974 an lebte er auf der engl. Insel Isle of Sheppey. 1979 war er Gastdozent für Poetik an der Universität Frankfurt a. M. (Begleitumstände, V 1980). 1971 würdigte die Verleihung des Georg-Büchner-Preises „die strenge Kunst seines epischen Werkes, worin er gegenwärtige Menschenwelt mit ernster Wahrhaftigkeit dargestellt hat“. Es folgten der Lübecker Thomas-Mann-Preis (1979) und der Kölner Literaturpreis (1983). Seit 1994 wird von U. Fries und H. Helbig im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht ein Johnson-Jahrbuch herausgegeben.
Johnsons Etikettierung als „Dichter beider Dtl.“ bezieht sich auf das zentrale Thema der nicht allein politischen, sondern vor allem bewusstseinsmäßigen Trennung zwischen den beiden dt. Staaten. Exemplarisch und in vergleichsweise „einfacher“ Form handelt hiervon die Erzählung Zwei Ansichten (1965): Die Beziehung zwischen dem Fotografen B. (West) und der Krankenschwester D. (Ost) besitzt keine Zukunft, obwohl es D. gelingt, in den Westen überzusiedeln. Das entscheidende Merkmal der Erzählkunst Johnsons ist jedoch die Umsetzung politischer und gesellschaftlicher Erfahrungen in eine Gestaltungsweise, die den Erzählvorgang und dessen Voraussetzungen thematisiert. Johnsons „mutmaßende“ Erzählweise ist Ausdruck der Suche nach Wahrheit, im Gegensatz zur Doktrin des sozialistischen Realismus, die vom Autor erwartet, dass er die (verordnete) „Wahrheit“ vertritt.
In der Slg. Berliner Sachen (1974) enthält der Essay Berliner Stadtbahn die programmatische Feststellung: Der Verfasser „sollte nicht verschweigen, dass seine Informationen lückenhaft sind und ungenau“. Er kann dies eingestehen, indem er „die schwierige Suche nach der Wahrheit ausdrücklich vorführt, indem er seine Auffassung des Geschehens mit der seiner Person vergleicht und relativiert, indem er auslässt, was er nicht wissen kann, indem er nicht für reine Kunst ausgibt, was noch eine Art der Wahrheitsfindung ist.“

Mutmaßungen über Jakob. Roman, V 1959.
Den Anlass zu „Mutmaßungen“ gibt der Tod des ostdeutschen Eisenbahners Jakob Abs unmittelbar nach der Rückkehr von einem Besuch bei seiner Geliebten Gesine Cresspahl im Westen. Handelt es sich um einen Unfall, um Selbstmord oder um Liquidierung aus politischen Gründen? „Zeugen“ sind Gesine, ihr Vater, der Kunsttischler Heinrich Cresspahl, der für die Beschattung von Abs zuständige Mitarbeiter der Militärischen Spionageabwehr, Hauptmann Rohlfs, und der Universitätsassistent Dr. Jonas Blach.
Der Text setzt sich aus fragmentarischen Dialogen, erzählenden Passagen und inneren Monologen zusammen. Die perspektivische Gebundenheit der einzelnen Beiträge verhindert zwar eine Antwort auf die Frage nach der tatsächlichen Ursache jenes „Unfalls“ (der zum Inspektor avancierte Rangierer Abs wurde von einer Lokomotive überfahren), lässt aber ein umso dichteres Geflecht der Lebensumstände des ohne sonderliches politisches Engagement loyalen DDR-Bürgers Abs erkennbar werden. Deutlich wird die unlösliche Verbindung zwischen Privatem und Politischem im Spannungsfeld zwischen Ost und West (Gesine, mit Jakobs Mutter in den Westen geflohen, soll als Spionin angeworben werden). Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund gehört der Aufstand in Ungarn 1956.
Indem die Erzählweise auf einen kontinuierlichen Ablauf der Ereignisse verzichtet, zielt sie darauf ab, die Leser in den Prozess des Mutmaßens einzubeziehen. Der Erzähler kommt zwar in einigen Passagen unmittelbar zu Wort, jedoch ohne über eine definitive Antwort auf die Frage nach den Ursachen für Jakobs Tod zu verfügen. Der Roman bezieht sich konkret auf die Verhältnisse in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre; zugleich besitzt er überzeitliche biblische Bezüge (z. B. der Name Jakob). Der Roman Jahrestage (1970–83) knüpft in vielfältiger Weise an die Mutmaßungen über Jakob an.

Das dritte Buch über Achim. Roman, V 1961.
Als „Beschreibung einer Beschreibung“ handelt der Roman vom Versuch des Hamburger Sportjournalisten Karsch, während eines Besuchs in der DDR eine Biografie des erfolgreichen Radsportlers Achim zu verfassen. Das Scheitern ergibt sich vordergründig daraus, dass es sich um eine Auftragsarbeit mit klar definierter Zielsetzung handelt: In der Gestalt Achims, der in die Volksvertretung gewählt worden ist, soll die Einheit von sportlicher Leistung und politischem Engagement beispielhaft zur Darstellung kommen. Details aus Achims Biografie, die dieses Bild in Frage stellen, müssen außer Acht bleiben (Zugehörigkeit zur HJ, Verwicklung des als Flugzeugkonstrukteur tätigen Vaters in eine Sabotageaffäre, Achims durch ein Foto belegte Teilnahme am Aufstand des 17. Juni 1953): Das nach rein sportlich orientierten Darstellungen nun der politischen Persönlichkeit gewidmete „dritte Buch“ soll „enden mit der Wahl Achims in das Parlament des Landes, das war die Zusammenarbeit von Sport und Gesellschaft in einer Person (…) auf dies Ende zu sollte der Anfang laufen und sein Ziel schon wissen“. Der Konflikt zwischen der Intention des Auftraggebers und der Einsicht des Journalisten erfährt seine Differenzierung in der Schilderung des Umgangs zwischen Karsch und Achim; Karsch hat früher mit Achims Freundin Karin zusammengelebt. Nun kommt die dt. Spaltung als Verständnisbarriere zwischen zwei Menschen ins Blickfeld. Eine exakte Beschreibung lässt allenfalls ein Rennrad zu.
Der syntaktisch und in seiner Begrifflichkeit verfremdete Er-Bericht ist mit einem „Dialogspiel“ verbunden, in dem zwei nicht näher bezeichnete Gesprächspartner die Beschreibungsversuche reflektieren. Nachträge hierzu sowie die Anwendung derselben Fragestellung auf die B. D. enthält die 1964 erschienene Slg. Karsch und andere Prosa.

Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Roman, E ab 1967, V 1970–73 und 1983 (4 Bde.). Verf B. D. 1999/2000 Margarethe von Trotta.
Im Mittelpunkt stehen Gesine Cresspahl aus dem Roman Mutmaßungen über Jakob und ihre (sowie Jakob Abs’ Tochter) Marie. Der Schauplatz der Gegenwartshandlung ist New York, ihr Zeitraum reicht vom 20. August 1967 bis zum 20. August 1968, gegliedert in vier zeitlich aufeinander folgende Abschnitte. Als Vermittler zwischen dem in den Erzählvorgang integrierten Leser und der dargestellten bzw. durch Gesine gesammelten, erinnerten, erläuterten Wirklichkeit fungiert Marie, die „wachsam bis zum Misstrauen“ ihre Fragen stellt. Der Lebensweg Gesines (Jahrgang 1933) liefert als „Geschichte, Ausbildung und Abrichtung einer Person“ die Materialien für den Versuch einer Aufarbeitung der dt. Vergangenheit. Räumlich spannt sich der Bogen von der Kleinstadt Jerichow in Mecklenburg bis zur Weltstadt New York, zeitlich von der Weimarer Republik bis zur politischen Krise der USA Ende der 1960er Jahre (Vietnamkrieg, Rassismus). Einen Schwerpunkt der retrospektiven Teile bilden die Anfangsjahre der DDR 1949–53. Die Darstellungsformen reichen vom Zitat (Gesines Lektüre der „New York Times“ als „Tagebuch der Welt“ und „erprobte Lieferantin von Wirklichkeit“) über anekdotische Schilderungen, tagebuchartige Eintragungen und Reflexionen bis hin zu imaginären Gesprächen mit Verstorbenen. Den inneren Zusammenhang schafft das Interesse an dem „Zustand und der Vorgeschichte einer bestimmten europäischen Person in New York“, wobei sich der Zugang zur individuellen Gestalt Gesine Cresspahl nur aus der Kenntnis des zeitgeschichtlichen Kontextes ihrer Biografie gewinnen lässt. Dies ist letztlich die „Botschaft“ des einem Höchstmaß an Akribie verpflichteten Romans. Als fundierte Lesehilfe erschien 1999 Johnsons Jahrestage, der Kommentar (Hg. Holger Helbig u. a.) zum besseren Werkverständnis.


Quelle: Ernst Klett Verlag GmbH
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009